obstivision

Buecher, Rezensionen, Beschwerden. Alles ums Lesen.

Kategorie: Klassiker

Sogwirkungen

Die Schweigsamkeit, durch die ich mich hier zur Zeit auszeichne, hat zwei Gründe: Zum einen kam ich in der intensiven Zeit, in der ich meine Abschlussarbeit schrieb, kaum zum Freizeit-Lesen, zum anderen, und das gilt viel stärker für den aktuellen Zustand, habe ich meine Liebe zum Stricken entdeckt. Es gehen haeufig unbemerkt Stunden ins Land, an deren Ende mal wieder ein Wollknäuel aufgebraucht und eine Mütze fertiggestellt ist. Die ersten Weihnachtsgeschenke sind schon entstanden, Sockengarn für weitere ist gekauft. Im Laden die Wollknäule zu streicheln ist fast so schön, wie in einem Buchantiquaritat in die nur rudimentär sortierten Reihen einzutauchen und auf die Jagd nach verlorenen Schätzen zu gehen.

Nur leider lässt sich das Stricken sehr schlecht mit dem Lesen verbinden, so blind und ohne mich darauf zu konzentrieren klappt es dann doch noch nicht. Dennoch zieht mich diese meditative Tätigkeit immer wieder in ihren Bann und weckt in mir den Wunsch, gleichzeitig einer Welt näher zu sein, in der es eben nicht nur eine Freizeitbeschäftigung war, sondern wirklich nötig, um Kleidung herzustellen. Häufig lasse ich nebenbei Filme laufen, zuletzt die Adaption von Jane Austens „Persuasion“ von 1995, aber wenn man die nur hört, geht einem doch viel verloren. So kam ich dann letztlich zu den Hörbüchern, die ich bisher immer so stark abgelehnt habe. Wenn sie gut gemacht sind (und auf LibriVox gibt es durchaus hohe Qualität), nehmen sie einen mit auf eine Reise in die Welt der Romane, die zwar anders ist, als wenn man selbst läse, aber dennoch sehr einnehmend. Derzeit läuft, sofern ich allein zuhause bin, Charles Dickens’ Great Expectations. Von ihm las ich im Frühjahr bereits A Tale of Two Cities, das mich in seiner Eindringlichkeit nahezu erschlug, dieser Roman steht dem in nichts nachm zumal es eine hervorrangend gelesene Vertonung gibt. Zuvor hörte ich Der Tod des Ivan Iljitsch von Tolstoi, das schon lange darauf wartete, gelesen zu werden.

Doch auch in anderen Lebensbereichen entwickeln sich Sogwirkungen, die mich immer wieder zur Literatur treiben. Mein Konsum von Schwarztee ist schon immer sehr hoch gewesen, manchmal entwickelt er gruselige Ausmaße und wenn ich zu einem russischen Rauchtee greife, muss ich nur eine Nase voll von seinem Aroma nehmen und wünsche mich sofort in einen Roman von Tolstoi oder Dostojewskij.

Bei allem Stricken und Hören habe ich das Lesen natürlich nicht vollkommen aufgegeben. Walter Scott hat endlich den Weg in meine Hände gefunden und weckt extreme Sehnsucht nach Schottland – wieder ein Sog, der von Büchern ausgeht. Zu Waverly fehlten mir die Worte, doch The Heart of Midlothian ist zu zwei Dritteln gelesen und wird hoffentlich seinen Weg auf diese Plattform finden. Zunächst muss da aber noch ein aktuelles Strickprojekt beendet werden.

Des Lesers Ehrfurcht

Literatur ist nahezu der einzige Weg, auf dem wir Einblick in die Lebensweise lang vergangener Zeiten erhalten. Wann immer ich einen Text lese, der im Mittelalter verfasst wurde – wenn auch aus Gründen der Verfügbarkeit und des Verständnisses mindestens in normalisierter Ausgabe, oft in Übersetzung – ergreift mich eine tiefe Ehrfurcht bei dem Bewusstsein, wie viele Jahrhunderte diese dichterischen Glanzleistungen überdauert haben. Denn seien wir mal ehrlich: Verse werden heute kaum noch geschrieben, schon garnicht 20000 am Stück, der Umfang des Tristan Gottfrieds von Straßburg, den er nicht einmal vollendete.

Gerade in den Artusromanen findet sich eine buntglitzernde Wunderwelt voller Phantasie, Prunk und Feierei, aber genauso gefüllt mit Kämpfen, Intrigen und ausgesprochen viel Humor. Die Vorstellung vom Mittelalter, die heutzutage vorherrscht, ist entweder romantisch ueberzeichnet oder düster und bedrückend. Die Literatur dieser Zeit bietet jedoch ein anderes Bild, eines nämlich, aus dem Lebensfreude und die Wertschätzung der Geselligkeit bei Mahlzeit, Musik und Dichtervortrag sprechen.
Tiefes Leid und Verzweiflung existieren, doch gilt es in den Romanen immer, diese Gefühle zu überwinden und das blühende Leben wiederherzustellen.

Erstaunen mag, wo doch der große Stellenwert der Religion im Mittelalter unumstritten ist, der sexualisierte Gehalt der Erzählungen. Zutiefst vulgäre Schwankerzählungen von Ehebrecherinnen und lüsternen Pfaffen auf der einen Seite mögen noch als Unterhaltung für das einfach Volk abgetan werden, aber auch in den großen Romanen über die Artusritter sind die Zweideutigkeiten recht eindeutig und die Untertöne deutlich.

hie huop sich herzeminne
nâch starkem gewinne.
si minneten sunder bette:
diu minne stuont ze wette,
sweder nider gelæge,
dem wart der tôt wæge.
mit scheften si sich kusten
durch schilte zuo den brusten
mit solher minnekrefte
daz die eschînen schefte
kleine unz an die hant zekluben
und daz die spiltern ûfe stuben.

Da erhob sich herzliche Liebe
nach großem Gewinn.
Sie brauchten kein Bett für die Liebe.
Das war das Ziel ihres Liebesverlangens:
wer von den beiden stürzte,
dem war der Tod zugemessen.
Sie küssten sich mit den Lanzen
durch die Schilde auf die Brust
mit solcher Leidenschaft,
dass die Eschenschäfte
bis an die Hand zersplitterten,
so dass die Späne umherflogen

Hartmann von Aue: Erec, V. 9106–9117; Übersetzung von Thomas Cramer

Wir lesen hier die Beschreibung eines Tjostes. Es geht in den Romanen um Ehre, um Liebe, um Respekt voreinander, selbst, wenn man sich hasst und bekämpft. Viele dieser Eigenschaften sind in unserer Welt verdreht, nahezu ins Gegenteil verkehrt worden, jeder denkt nur noch an seinen Vorteil. So ist es denn auch für unsere Gesellschaft ein verlorenes Gut, was sich unter dem Begriff des „höfischen Denkens“ fassen lässt, nämlich ein Leben voller Strukturen und voller Reflektion über das eigene Handeln.

Ich drifte ab. Was ich sagen will: Lest sie, lest Wolfram, Gottfried, Hartmann und genießt die Kunst, Worte so aneinander zu reihen. Genießt die Bildsprache, die aus diesen Werken entspringt, in denen noch heute, 800 Jahre später, jeder Edelstein zu glitzern scheint wie am ersten Tag, jede Mahlzeit duftet und euch das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt und deren Wälder dazu führen, dass man sich kaum des Wunsches erwehren kann, sein Pferd zu satteln und selbst auf die Jagd zu gehen. Fühlt die Ehrfurcht, die sich einstellt, wenn man liest, was vor so unfassbar langer Zeit und schwersten Bedingungen zu Pergament gebracht wurde, stellt euch vor, wie die Autoren an ihren Schreibpulten standen, die spitze Feder in der Hand, und stundenlang überlegten, bevor sie die Worte niederschrieben, denn das Material war zu kostbar für viele Fehler. Spürt die Kunst!

Gustave Flaubert – Madame Bovary

Eine Vorlesung zum skandinavischen Roman im letzten Semester gab mir viele Anregungen im Hinblick auf zu Lesendes. Vorrangig waren das aber die Romane aus anderen europäischen Ländern, die zur Einordnung genannt wurden. Darunter war auch Die Brüder Karamsov von Fjodor Dostojewskij, nun folgt Flauberts Madame Bovary, die Erzählung der jungen Emma, die sich auf dem Landwirtschaftsbetrieb ihres Vaters langweilt und durch ihre Heirat mit dem nicht allzu intelligenten und erfolgreichen, sie aber stets liebevoll und untertänig umsorgenden Arzt Charles Bovary hofft, einem aufregenden Stadtleben näher zu kommen.

Auch als Ehefrau langweilt sie sich schnell wieder und stürzt sich in zwei Affären, in denen sie hofft, ihre Träume von romantischer Liebe erfüllt zu sehen. Beide Male glaubt sie zunächst daran, gefunden zu haben, was sie sucht, sie vernachlässigt Ehemann, Kind und Haushalt, um sich dem Liebhaber hinzugeben, verstrickt sich immer mehr in ein Gewirr aus Schulden und findet doch immer wieder nur Langeweile und Gewöhnung, bis sie sich, verarmt und verzweifelt, selbst umbringt. Die Trauer über ihren Verlust reißt auch ihren Mann mit in den Tod, nachdem er, der niemals eifersüchtig war und immer an die Zuneigung seiner Frau glaubte, zuletzt doch unumstößliche Beweise für ihren Ehebruch findet.

Soweit klingt die Handlung nicht überraschend,was sie hingegen lesenswert macht, ist, wie Flaubert mit seiner Hauptfigur umzugehen weiß. Zu Beginn stellt er sie dar als etwas naives, intelligentes Mädchen vom Lande, das von der großen Welt und vor allem dem Leben in der Großstadt Paris träumt. Sie wirkt sympathisch und man möchte ihren Weg mitgehen und sie glücklich werden sehen. Ein Ball, an dem das Ehepaar Bovary teilnehmen darf, weil der Arzt den Gastgeber zufriedenstellend behandelt hat, lässt hoffen, dass Emma erreichen wird, was sie sich erträumt. Ganz subtil jedoch verändert der Autor den Eindruck, den man von Emma erhält. Ihre Naivität wird zur Sorglosigkeit, ihre Suche nach romantischer Liebe driftet ins nahezu Lächerliche ab. Die heftigen, nahezu obsessiven aber innerhalb kürzester ausgebrannten Affären sind nur noch Beispiele dafür, wie ein Mensch die Kontrolle über sein Leben verliert. Dies gipfelt in dem immensen Schuldenberg, der unter dem Einfluss des gerissenen Dorfkaufmannes angehäuft wurde und aufgrund dessen der gesamte Besitz der Bovarys gepfändet wird. Auch dieser letzten Konsequenz ihres liederlichen Handelns weiß Emma sich zu entziehen, durch den Selbstmord mit Hilfe von Arsenik, das sie ihrem Nachbarn, einem Apotheker, entwendet. Madame Bovary ist innerhalb der Romanhandlung von einem freundlichen, etwas weltfremden Mädchen zu einem absoluten Negativbeispiel des Müßigganges geworden, Sympathie und Mitleid bringt man zuletzt nur noch ihrem Ehemann Charles und der Tochter Berthe gegenüber auf, deren Leben vom Handeln Emmas zerstört wird.

Ein Paradebeispiel der Subtilität in der Figurenentwicklung, denn es lässt sich im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren, an welchem Punkt Emmas Beschreibung ins Negative kippte. Dieser Zustand war einfach irgendwann erreicht, ohne, dass man zuvor eine Veränerung bemerkt hätte.

Warum heißen eigentlich so viele Romanfiguren Emma?

Fjodor M. Dostojewskij – Die Brüder Karamasow

Dostojewskij und mich wird wohl immer eine Hassliebe verbinden, denn auch, wenn mir die Bedeutung von Schuld und Sühne für die Literatur berechtigt erscheint, so habe ich es doch gehasst, diesen Roman zu lesen. Dennoch, aus Ehrgeiz oder welchem Grund auch immer, beschloss ich, ihm noch eine Chance zu geben und las den ungleich viel längeren Roman Die Brüder Karamasow – in wesentlich kürzerer Zeit und mit außerordentlichem Vergnügen. Er kann es also doch, kann Romane schreiben, die ich nicht nur zu würdigen, sondern zu genießen in der Lage bin.

Verkauft wird der umfangreiche Bericht über die Brüder Karamasow gern als Kriminalroman, wohl unter anderem, um in unserer heutigen, Krimi-verliebten Zeit noch einen Absatzmarkt dafür aufzutun. Doch der Roman ist so viel mehr, was schon allein darin durchscheint, dass der Mord erst nach knapp 600 Seiten Wirklichkeit ist, auch wenn er zuvor immer angedeutet wird. In meinen Augen waren der großen Themenbereiche drei, die ich kurz umreißen möchte.

1. Die Rolle der Kirche und das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Der Frage nach der Kirchengerichtsbarkeit und dem anzustrebenden Grad an Trennung oder Vereinigung zwischen Kirche und Staat wird gerade zu Beginn sehr viel Raum gegeben. Der Starez Sosima, ein extrem positiv dargesteller Charakter, vertritt die Ansicht, der Staat müsse zur Kirche werden, es müsse vor allem im Hinblick auf Verbrechen soweit kommen, dass die Kirche zu Gericht sitzen kann, Verbrecher aus ihren Reihen auschließen kann und somit der Kriminalität einen viel abschreckenderen Aspekt bieten als bei einer weltlichen Gerichtsbarkeit. Da diese nämlich unnötig grausam sei, fühle sich die Kirche unter ihr gezwungen, mit den Verbrechern Mitleid zu haben und somit werde die Sünde nicht gestraft, sondern vergeben. Erst wenn der Staat zur Kirche würde, könne man tatsächlich sinnvolle Prävention leisten.

Dass diese Meinung von einem der zwei unbestritten positiven Charaktere vorgebracht wird, lässt den Autor dahinter vermuten, auf jeden Fall wird diese Meinung innerhalb des Romans am überzeugendsten vertreten. Im weiteren Verlauf klingt die Fragestellung immer wieder an, denn es handelt sich doch tatsächlich um ein schweres Verbrechen, das begangen wird. Die einleitende Auseinandersetzung mit der Kirchengerichtsbarkeit stellt die Möglichkeit in den Raum, dass der Mord hätte verhindert werden können, worauf auch einige andere Aussagen hindeuten.

2. Das Russentum. Die russische Literatur beschäftigt sich immer wieder ausführlich mit der Frage danach, was den Russen auszeichnet und wodurch der „russische Charakter“ definiert ist. Die Relevanz, die ihre Nationalität für die Russen hat, fand ihren Weg sogar in die Romane von Schriftstellern anderer Nationalitäten, so ist der „Russentisch“ der einzige, an dem sich im Lungensanatorium, das Thomas Mann in seinem Zauberberg beschreibt, Menschen einer Nationalität zusammenschließen, während in allen anderen Begegnungen die Herkunft aller Patienten nicht die geringste Rolle spielt. Dostojewskij ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Seine Dialoge sprechen vom „russischen Volk“, der Verbundenheit mit dem „heimatlichen, russischen Boden“, von den „russischen Gerichten“ und ihrer Vorbildfunktion für die ganze Welt. Dass Russisch-Sein bedeutsam ist, daran besteht kein Zweifel.

Doch betrachtet man die dargestellten Menschen, so bleibt nur ein Schluss übrig: Der Russe ist krank. Er mag ein ehrbarer, aufrichtiger Mensch mit guten Absichten sein, aber in vielerlei Hinsicht wird er geplagt, physisch wie psychisch. Die Frauen sind lahm und neigen zur Hysterie, immer wieder verfallen sie in Gekreisch, erleiden Zusammenbrüche und steigern sich übermäßig in ihre Gefühle hinein. Die Männer erkranken oft am „Nervenfieber“ und verlieren am Ende zahlreich den Verstand, wenn sie nicht vorher an der Schwindsucht sterben. Das Bild, das Dostojewskij vom Zustand seiner Nation zeichnet, ist vernichtend.

3. Der Kriminalroman. Denn natürlich ist Die Brüder Karamasow ein Kriminalroman, nach dem klassischen „whodunit“-Schema wird nach dem Mörder gesucht. Motive werden erörtert, Beweise vorgelegt und vernichtet, Lügen erzählt, Verdächtigungen ausgesprochen, es passiert alles, was der moderne Krimileser sich wünscht. Vollkommen zuverlässig wird die Schuldfrage nicht geklärt, auch wenn nachvollziehbare Argumente für eine Vermutung erbracht werden. Mein Verdacht, den ich sehr früh entwickelte, bestätigte sich nicht, die Irreführung ist äußerst gelungen.

Großartig. Ich bin für den schwierigen ersten Versuch, mich den Werken Dostojewskijs zu nähern, versöhnt. Neben Tolstoi steht er mit diesem Roman noch nicht, aber er rückt deutlich weiter in seine Nähe.

Umberto Eco – Das Foucaultsche Pendel

Mit Umberto Eco starb am 19. Februar diesen Jahres einer der Größten der Literatur und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Lange, bevor er Romane schrieb, war er schon ein anerkannter Sprach- und Literaturwissenschaftler, seine Einführung in die Semiotik gilt bis heute als Standardwerk. Weltbekannt wurde er durch seinen Roman Der Name der Rose, nicht zuletzt wohl aufgrund der Verfilmung mit Sean Connery in der Hauptrolle, die in dem Ruf steht, eines der seltenen Beispiele dafür zu sein, dass ein Film besser ist als das Buch, auf dem er basiert. Auch wenn ich den Film mag – diese Meinung teile ich nicht, denn er reduziert dieses unglaublich vielschichtige, extrem intertextuelle Werk zum größten Teil auf die Lesart als Kriminalroman, was ihm absolut nicht gerecht wird.

Von ebensolcher Vielfalt an Zitaten und Beziehungen zu anderen Werken ist der zweite, ebenfalls weltweit erfolgreiche Roman Ecos Das Foucaultsche Pendel (1988). Die Rahmenhandlung lässt sich noch einigermaßen zusammenfassen; im Zentrum steht der Ich-Erzähler Casaubon, der während seiner Dissertation über die Templer bereits einige seltsame Gestalten trifft, unter anderem einen Herrn Agliè, der sich als der Graf von Saint-Germain ausgibt. Später landet Casaubon in einem kleinen Wissenschaftsverlag, der beginnt, eine Buchreihe über recht esoterische Themen herauszubringen, immer wieder kommen dabei die Templer, aber auch die Rosenkreuzer ins Spiel, nicht zu schweigen von Unmengen immer verrückterer Gestalten, aber auch historischen Personen wie Francis Bacon. Angetrieben von diesen weit verzweigten Verschwörungstheorien, mit denen Casaubon und seine Kollegen täglich bei der Arbeit an diesen Manuskripten konfrontiert werden, beginnen sie, ihre eigene zu entwickeln, eine die ganze Welt umfassende Verschwörung, die ihren Anfang bei den Templern macht, beginnt, Gestalt anzunehmen. Problematisch wird es, als sie selbst nicht mehr vollkommen überzeugt sind, frei zu erfinden, und vor allem eine Gruppe von Menschen auftaucht, die diese Spekulation vollkommen ernst nimmt.

So viel zur Handlung. Sie gibt dem Geschehen einen Rahmen, sie bringt Spannung hinein und ist für sich genommen schon so verrückt, dass es Spaß macht, sie zu lesen. Viel wichtiger aber bei Eco ist sein Erzählverfahren. Er springt in der Zeit, im Zickzack durch die Handlung, mit Rückblenden und Vorausdeutungen, die vollkommen willkürlich aneinandergereiht wirken, aber dennoch eine sinnvolle Einheit bilden. Ständig ist man neugierig, will wissen, was diese seltsamen Vögel antreibt, mit denen man es zu tun bekommt und verliert irgendwann, genau wie die Protagonisten, ein bisschen den Halt in der Realität, beginnt sich zu fragen, wie viel davon möglicherweise stimmen könnte.

Ecos Romane sind Collagen aus Zitaten, sie spielen mit Andeutungen und Hinweisen auf die ganze literarische Welt. Es ist schier unglaublich, wie belesen Eco war, es scheint, als könne man jeden Satz seiner Werke auf andere beziehen, jede seiner Formulierungen kann man irgendwo wiederfinden, wenn man nur lange genug gräbt. Mir wird sich nur ein Bruchteil dieser Anspielungen erschlossen haben und selbst von dem wenigen, das ich zuordnen konnte, war ich überwältigt. Phasenweise hat man das Gefühl, keinen Roman zu lesen, sondern einen Auszug aus der Auflistung eines literarischen Kanons – nur viel fesselnder.

Manche Elemente der dargebrachten Theorien sind so aberwitzig, dass man nur darüber lachen kann, wie beispielsweise die Verkettung von Ghostwritern, die an einer Stelle vermutet wird: Ein gewisser Kelley habe anstelle von Shakespeare dessen Dramen und Sonette verfasst, weil Shakespeare damit beschäftigt war, die Werke zu schreiben, auf denen der Name Francis Bacons stehe würde. Der, eigentlich in der Lage, seine Arbeit selbst zu tun, habe dazu keine Zeit gehabt, denn er habe Rosenkreuzer-Manifeste unter dem Namen Andreae verfasst. Der Herr Andreae aber, dem man diese Werke zuschrieb, war selbst der Ghostwriter Miguel de Cervantes’, schrieb also den berühmten Roman, dessen Titel heute zumeist mit Don Quijote abgekürzt wird. Das relevante Element in dieser Abfolge ist vor allem die eigentliche Arbeit Bacons – der habe nämlich eine andere als die seine, englische Gruppe von Templern aus der Reserve locken wollen. So für sich genommen klingt dies, als habe es sich ein vollkommen irrer Spinner ausgedacht, in der Argumentation des Romans erscheint es logisch. Dieses Gefühl hat man während der Lektüre des Roman wiederholt und am Ende bleiben Verwirrung und die Frage, wie viel von dem, was er da verknüpft hat, Eco selbst geglaubt, wie viel er erfunden und wie viel er sich von anderen Verschwörungstheoretikern abgeguckt hat. Eine Frage, die man wohl nicht beantworten kann, aber den Roman zu lesen kann ich jedem nur ans Herz legen, gerade jetzt, als letzte Ehrung dieses großen Mannes.

Thomas Mann – Der Zauberberg

Im letzten Post erwähnte ich bereits, wie schwer es mir fiel, Thomas Manns Der Zauberberg zu lesen. Nach fast zwei Monaten habe ich es nun geschafft und bin fasziniert. Der Roman hat Längen, man liest philosophische Gespräche, die der Protagonist selbst nicht versteht und ist vollkommen ratlos ob der Frage, was sie dort sollen. Man wundert sich immer wieder über die Abwesenheit von Handlung, denn genaugenommen geschieht einfach nichts. Ein junger Mann aus Hamburg besucht seinen Verwandten in einem Lungensanatorium im Hochgebirge und bleibt dort – letztlich für sieben Jahre und wesentlich länger als der, den er eigentlich besuchte.

Auf den ersten Blick ist es eine Form von Entwicklungsroman. Nicht im klassischen Sinne, nicht endend mit Heirat, aber in einem psychologischen Sinne. Der Charakter des jungen Mannes, Hans Castorp, verändert sich, gewinnt an Tiefe und Vielschichtigkeit. So weit, so simpel. Einige Figuren verbringen die Zeit mit ihm dort, andere kehren immer wieder einmal zurück, noch andere treten nur einmal, vorübergehend, in Erscheinung und sie alle nehmen unterschiedlich wichtige Rollen in Castorps Leben ein. Aber es passiert über hunderte Seiten hinweg nicht wirklich etwas und die wenigen Dinge, die geschehen, werden nur nebenbei erwähnt.

Was macht also den Reiz dieses Romans aus? Genau das. Die Nebensächlichkeit allen Geschehens, die Nebensächlichkeit der Zeit – oder vielmehr ihre vollkommene Nichtbeachtung – im Angesicht der Krankheit, vor allem aber die Nebensächlichkeit des Lebens selbst. Alle Menschen in dieser abgeschiedenen Bergwelt leben in den Tag hinein, der immer eine feste Struktur hat, denken gleichzeitig weit voraus bis zum nächsten Feiertag, bis zum nächsten Großereignis, wie auch nicht über den kommenden Tag nach. Sie alle sind krank, unterschiedlich schwer, aber doch krank. Dieser Umstand ist es, der sie in diese Einsamkeit verschlagen hat und dort zusammenschweißt, er ist es aber auch, was das Planen unmöglich macht. Niemand in der Romanrealität weiß, wie lange er noch zu leben hat, es sei denn er weiß, dass es nur noch wenige Tage oder Stunden sind. Man lebt.

Genau dieser Zustand löste in mir ein entsetzliches Sehnen aus. Es scheint von diesem Gedanken ein unendliches Glück auszugehen. Von der Vorstellung, sich niemals um die Zukunft Gedanken machen zu müssen, niemals darum, was oder wann man essen soll, wie man seinen Tag gestaltet. Vollkommen frei zu sein, ohne irgendwie genötigt zu sein, selbst Entscheidungen zu treffen. Dazu kam die Idee eines Ortes, an dem die restliche Welt nicht existiert, an dem sich alle Gespräche nur auf den Kreis der Anwesenden beziehen und man sich um Politik und weltweite Entwicklungen nicht schert.

In unserer heutigen Welt, die immer früher von uns verlangt, Entscheidungen zu treffen, die weitreichende Folgen haben, in der man schräg angesehen wird, wenn man etwas tut, weil es einem Spaß macht, ungeachtet der Möglichkeiten, damit Geld zu verdienen, oder sich sogar einfach nur treiben lässt, erweckte dieses Idyll ungeahnte Gefühle bei mir. Es ist eine Utopie, eine, die im Kleinen und Privaten ihren Platz findet. Die Krankheit ist in der Romanwelt nichts Negatives, ganz im Gegenteil. Auch darüber wird viel gesprochen und zu keinem Schluss gekommen, doch auch die Krankheit findet Erwähnung bei der Erörterung einr der wiederkehrenden Fragen: Der Frage nach der Menschlichkeit. Danach, was uns Menschen ausmacht. Sie wird nicht beantwortet, aber es finden sich viele Anregungen, wie man sie beantworten könnte.

Ein Roman, der zum Nachdenken anregt, besonders aber zum Sehnen. Ein zähes, langes Meisterwerk, durch das man sich quälen muss, mit dessen unwiderstehlicher Sogwirkung mich aber auch in Zukunft eine intensive Hassliebe verbinden wird.

Die Lust zu lesen

Es gibt Dinge, auf die kann man nicht länger als einige Tage verzichten, wenn man seine innere Ruhe nicht verlieren möchte. Bei mir sind es zwei: Mein Pferd und das Lesen. Während ich immerhin im Urlaub auch gut mal einige Wochen ohne das Pferd überstehe, wird man mich nichtmal zu einer Übernachtung ohne Buch aus dem Haus gehen sehen. Mindestens eine halbe Stunde am Tag muss mit einem Buch in der Hand verbracht werden, am Besten noch mit einem Tee dazu, sonst werde ich unruhig, unzufrieden und ungenießbar. Doch was ist es eigentlich, das uns alle immer wieder in die Arme der fremden Welten treibt, die sich uns schwarz auf weiß in Büchern eröffnen?

Es können viele verschiedene Gründe sein, doch einige wird man in verschiedenen Lebenslagen immer wieder treffen und sie finden sich passenderweise in den Werken der von mir erwähnten Großen Vier meiner liebsten Autoren wieder. Weit oben steht wohl der Wunsch nach Liebe und heiler Welt. Während um uns herum alles schief zu gehen scheint, die Welt immer mehr zugrunde geht und unser eigenes Liebesleben womöglich auch nicht das ist, was wir uns wünschen, flüchten wir uns in andere Gefilde, an Orte und in Leben, die langsamer gehen und vor allem viel glücklicher und erfüllter sind. Während auch viele Jugendromane und phantastische Erzählungen solche Elemente mit sich bringen, so steht doch ganz oben auf der Liste derer, die dieses Gefühl zu bedienen wissen, eine Autorin: Jane Austen. Man weiß, ihre Romane enden immer glücklich, das füreinander bestimmte Paar findet sich und alle Widerstände werden überwunden. Mit diesem beruhigenden Gedanken kann man sich ganz in die wundervoll gelassene Welt Englands im ausgehenden 18. Jahrhundert vertiefen und nebenbei vom eigenen Mr. Darcy oder Mr. Knightley, von der eigenen Lizzie oder Emma träumen. Denn auch, wenn die Hauptpersonen der Romane immer die Frauen sind, glaube ich, dass auch Männer hier Seelenruhe und Zufriedenheit finden können, wenn sie sich trauen, diesen Geschichten eine Chance zu geben.

Als jemand, der gern reist, ist es auch oft das Fernweh, das mich zu den Büchern treibt. Während es Menschen gibt, die Tolkien verfluchen für seine seitenlangen Landschaftbeschreibungen, kann ich davon kaum genug bekommen, verliere mich in der Vorstellung dieser wunderschönen Natur, die er so gekonnt detailreich zeichnet und freue mich, wenn ich an Orte komme, die ein winzig kleines bisschen aussehen wie Mittelerde, das in meiner Vorstellung ohnehin zum größten Teil in Schottland liegt, meinem liebsten Reiseziel und Gegenstand von Auswanderungs-Tagträumereien. Gute Landschaftsbeschreibungen sind es auch, die mich dazu bringen können, ein Buch lesen zu wollen. Der Zauberberg von Thomas Mann ist da so ein Kandidat. Nachdem ich mich lange vor diesem Autor gescheut habe, hörte ich jemanden darüber klagen, dieses Buch sei so voller ausführlicher Beschreibungen der Bergwelt und lese sich daher unglaublich zäh. Noch am gleichen Tag habe ich das Buch bestellt. Auch wenn ich von der unerwartet geringen Zahl der Landschaftsbeschreibungen eher enttäuscht war und stattdessen einige philosophische Diskussionen den Roman tatsächlich eher zäh machen, so konnte ich mich seiner Sogwirkung doch nicht entziehen und kämpfe mich durch, auch wenn es ungewöhnlich lange dauert.

Das bringt mich direkt wieder zu einem weiteren Grund zu Lesen: Ehrgeiz. Reiner, schlichter Ehrgeiz, der Wunsch, behaupten zu können, man habe ein Buch gelesen. Das und nichts weiter war es, was mich Tolstois Anna Karenina lesen ließ, über das ich weiter nicht viel wusste und dessen Autoren ich nicht einschätzen konnte. Nicht gerechnet hatte ich damit, wie intensiv, berührend und fesselnd Tolstoi zu erzählen vermag. Kaum hatte ich sein eines großes Werk gelesen, verschlang ich auch das zweite, noch viel größere: Krieg und Frieden. Monumental und umfangreich hielt es mich fest, ich konnte es nicht aus Hand legen und war traurig, als ich das Ende erreichte. Seitdem verschlinge ich, was ich von diesem Autoren in die Hände bekomme. Die kurzen Erzählungen Der Schneesturm und Leinwandmesser nahmen mich auf bisher ungekannte Weise gefangen und werden sicher immer wieder gelesen werden, wenn es nötig ist, mich durch die einfache Schönheit von Sprache aus einem Loch zu holen.

All diese Gelüste lassen sich zumeist mit Erzählungen befriedigen, die in unserer Welt spielen. Doch wie erklärt man dann die Popularität von phantastischen Romanen, von Magie, Zauberwesen und verwunschenen Welten? Das ist die Freude an der Imagination, der Flucht aus dem Bekannten und der Lust daran, die Grenzen der eigenen Vorstellungskraft auszuloten. Je unwirklicher uns die Gegenstände solcher Romane erscheinen, desto fesselnder können sie sein, wenn sie stimmig erzählt sind. Ein Meister der Magie ist Brandon Sanderson. Nachdem er sich intensiv mit der Theorie dahinter befasst hat, gelingt es ihm immer und immer wieder, schlüssige, abwechslungsreiche und neue Arten der Magie zu erdenken und nimmt den Leser mit in Welten, in denen Farben, Metalle und die Energie eines Sturms den Menschen zu unglaublichen Dingen befähigen.

Natürlichen können und sollen Romane mehrere dieser Anforderungen gleichzeitig zu erfüllen in der Lage sein, sollen eine wunderbare Liebesgeschichte in einer phantastischen Welt erzählen, sollen die Landschaften unserer Welt von Magie durchdrungen sein lassen. Vor allem sollen sie eins: Schön sein. Der Wunsch nach ästhetischen Erfahrungen ist es doch zuletzt, was uns alle immer wieder zurück zu den Büchern treibt, dazu, immer mehr zu lesen und nicht aufhören zu wollen. Wenn ich abends im Bett liege und erfolglos versuche, einzuschlafen, tut es mir Leid um die Zeit, die ich mit lesen hätte verbringen können. Wenn ich im Bus sitze, wünsche ich mir, die Zeit lesend nutzen zu können, was die dadurch auftretende Übelkeit leider verhindert. Immer, wenn meine Gedanken schweifen, wünsche ich mir ein Buch. Denn das bedeutet für mich die Lust am Lesen: Der dauernde Wunsch, die Möglichkeit zu haben, gerade jetzt lesen zu dürfen.

Archipel GULAG und 1984

Zur Zeit lese ich Archipel GULAG von Alexander Solschenizyn und 1984 von George Orwell parallel. Während ersteres, erschienen in den 1970er Jahren, verfasst aber um einiges früher, von den realen Umständen in der Sowjetunion von ihrer Gründung bis zum zweiten Weltkrieg berichtet, von Verhaftungen, Schauprozessen und absolut irrwitzigen Anklagepunkten, beschreibt letzteres eine dystopische Zukunft (aus der Sicht des Jahres 1949), ein London im Jahr 1984, das Teil des Riesenreichs Oceania ist, in dem absolute Überwachung nicht nur der Handlungen und Äußerungen, sondern sogar der Gedanken eines Menschen vollkommen etabliert sind. Ein Freund sagte zu 1984, er glaube, „dass es sich gg. Russland richtete, und den erwarteten sowjetischen Kommunismus beschreibt, wie er in Großbritannien und im Westen aussehen würde.“ Eine interessante These, denn der Gedanke, dass Orwell die Zustände in der Sowjetunion beschreibt, war der erste, der sich mir aufdrängte.

Die Ähnlichkeiten sind überall zu spüren, schließlich sind die jeweils beschriebenen politischen Systeme extrem stark von Überwachung und exekutiver Willkür gegenueber den eigenen Bürgern geprägt, aber es gibt Momente, in denen sie sich besonders stark aufdrängen: Das Thoughtcrime und einige Begriffe des Newspeak, der offiziellen Sprache der Regierung in 1984. Vor allem der zentrale Begriff des Doublethink, der eigentlich nichts weiter bedeutet, als eine gute versteckte Doppelmoral, tritt hier hervor. Auch, oder vielleicht sogar zuallererst, in der Praxis der scheinbar grundlosen Verhaftungen und Hinrichtungen riesiger Bevölkerungsgruppen, findet sich die UdSSR in Orwells Roman wieder, der hier sogar noch harmloser wirkt, als die Beschreibungen Solschenizyns es von der Macht Russland und über sein eigenes Gebiet und die von ihm abhängigen Staaten vermuten lassen – ein Zeichen dafür, dass man garnicht so krass denken konnte, wie Lenin und vor allem Stalin gehandelt haben? Betrachten wir die einzelnen Punkte genauer.

Doublethink definiert Orwell folgerndermaßen:

The power of holding two contradictory beliefs in one’s mind simultaneously, and accepting both of them.

Diese Fähigkeit sei nötig, damit die Parteimitglieder, die um das Lügengebaeude, auf dem ihre Macht basiert, wissen, nicht selbst die Basis dieser Macht beseitigen müssen. Wuerden sie anerkennen, dass ihre Herrschaft auf reinen Lügen und Betrug an der Bevölkerung basiert, müssten sie selbstverständlich diese Macht aufgeben, die ihnen nicht rechtmaessig zusteht. Gleichzeitig glauben sie aber, legitim zu herrschen. Der Weg zur von Solschenizyn beschriebenen Sowjetunion ist nicht weit. Einerseits beharrte die Justiz immer wieder darauf, dass alles dem Volk gehöre, dass deshalb alle Privatpersonen ihre Wertsachen abgeben mussten, dass die Kirchenbesitztümer dem Staat übergeben werden mussten, andererseits liebten sie aber ihren Luxus und waren extrem bestechlich, das Fallenlassen einer Anklage, oder wenigstens die Erleichterung einer Strafe, war fast immer zu haben – sofern der Preis stimmte.

Thoughtcrime ist das schlimmste Verbrechen, dass man nach Meinung der Partei in Oceania begehen kann. Es ist kein wirkliches Verbrechen, es sind nur Gedanken, die zu Verbrechen führen können. Wer verhaftet wird, der hat in den allermeisten Fällen noch nicht gegen die Partei gehandelt. Er wird verhaftet, um zu verhindern, dass er dies eines Tages tun könnte. Eine solche Argumentation führt zu einer Gesellschaft voller Angst, die sich kaum noch traut, überhaupt zu denken gleichzeitig aber auch zu einer vollkommenen Willkür seitens der Autoritäten, die den Menschen einfach einreden konnte, sie hätten im Schlaf Verräterisches gesprochen. Also genau das, was man in Russland antraf. Selbst die obige Aussage über den Grund der Verhaftungen tätigt Solschenizyn in fast demselben Wortlaut.

Begriffe neu schaffen, um eine eigene Systemsprache zu finden, ist ein Vorgang, der sich wohl in jeder Art von menschlicher Gesellschaft abspielt. Von Orwell systematisiert mündet dies im Newspeak, das heute noch immer eine geflügeltes Wort ist. Es zeichnet sich dadurch aus, möglichst wenig Worte zu besitzen, man brüstet sich in der Welt des Romans damit, den Umfang der Sprache immer weiter zu reduzieren, um damit auch die Fähigkeit der Menschen zum freien Denken einzuschraenken – etwas, das man auch durch die scheinbar wahllosen Verhaftungen erreichen will. Wenn es keine Worte mehr gibt, in die man seine Kritik am System fassen kann, so die Theorie, dann kann man die Kritik auch nicht mehr denken. Ansätze von diesem Vorgehen, vorallem in der Benennung staatlicher Organisationen wie der Geheimpolizei Tscheka oder dem Obersten Tribunal, einer Gerichtsinstanz, Obtrib, lassen sich auch in der Sowjetunion erkennen, die Solschenizyn beschreibt. Die Funktion wird hier nicht so ausdrücklich zu Wort gebracht, wie bei Orwell, doch die Tendenz ist zu erkennen, vor allem, wenn man verlgeichbare Newspeak-Begriffe heranzieht, wie die Bezeichnungen fuer die vier Ministerien in Oceania: Minitrue, Minipax, Miniplenty und Miniluv.

Der Weg, den Winston Smith, der Protagonist von 1984 geht, von gedanklichem und in privatem Rahmen tatsaechlichem Widerstand, über Folter und Gestehen aller ihm vorgeworfenen Verbrechen nach einer plötzlichen Verhaftung, bis hin zu gebrochener Akzeptanz des Systems, ist ein prototypischer. Solschenizyn betont immer wieder, welch grausame Methoden angewendet wurden, in welch nahezu kreativer Weise Menschen gebrochen und dazu gebracht wurden, alles zu gestehen, nur damit die Folter ein Ende nähme. Es ist genau das gleiche Vorgehen auf beiden Seiten.

Die jahrelange Abschiebung in Zwangsarbeitslager als Strafe für trivial erscheinende Verbrechen mag noch allgemein anerkannt sein, wie jedoch mit endgültig zu beseitigenden unerwünschten Personen umgegangen wird, birgt deutlichere Ähnlichkeiten in beiden Werken. Die Vertuschung von Erschießungen nämlich, von der Solschenizyn noch als Zwangsarbeit „ohne Posterlaubnis“ berichtet, treibt Orwell auf die Spitze: Wer dem System auffällt, wird vernichtet, nicht nur getötet. Jede Spur davon, dass diese Person existiert hat, wird kommentarlos entfernt. Listen, die den Namen eines entfernten Menschen enthalten, werden erneuert, zur Arbeit erscheint dieser Mensch nicht mehr, ohne dass es jemand kommentiert. Es wird gehandelt, als habe niemand den Menschen jemals gekannt. Es gab ihn nie, er ist eine Unperson. Die Parallele ist deutlich, wenn auch in diesem Fall in der Fiktion überspitzt dargestellt. Woher die Idee dazu kommt, ist aber kaum fraglich.

Die Parallelen sind aufgezeigt, der Vergleich angestoßen. Sicher sind mir einige Punkte entgangen und vermutlich habe ich mich oft schwammig ausgedrückt. Dennoch denke ich, dass mir die Vermittlung des Grundgedankens gelungen ist. Viele der Aspekte beider Werke, vor allem aber die immer mehr zunehmende Totalüberwachung aus 1984 findet sich in zunehmender Stärke auch in unserem Alltag wieder, was erst recht ein Grund ist, sich dieser Texte wieder anzunehmen und sich neu zu bedenken. Gedanken zu diesem Ansatz hat aber der Zornbuerger bereits geäußert und das viel besser, als ich es könnte.