obstivision

Buecher, Rezensionen, Beschwerden. Alles ums Lesen.

Monat: März, 2016

Miguel Ángel Asturias – Sturm

Reisen dient ja vielen Dingen, unter anderem auch immer wieder der Erweiterung des eigenen Horizontes in jeglicher Hinsicht. Doch auch, wenn ich geraume Zeit in Peru verbracht habe, ist die Literatur Süd- und Mittelamerikas mir, zu meiner Schande, größtenteils unbekannt. Dabei hat dieser Kontinent einige großartige Autoren hervorgebracht, denen international Anerkennung gezollt wurde und wird. Dazu gehört auch Miguel Ángel Asturias, der Nobelpreisträger für Literatur von 1967. Meine Eltern reisten vor vielen Jahren ein halbes Jahr durch Mittelamerika und brachten von dort nicht nur unendlich viele phantastische Geschichten mit, sondern auch ein umfassendes Interesse für die Literatur und Geschichte dieser Länder. Von meinem Vater erhielt ich also vor kurzem, nach einem Gespräch über das Reisen im Allgemeinen und die heutige Situation Mittelamerikas, die es kaum noch möglich macht, diese Länder gefahrlos zu erkunden, den ersten Band der „Bananen-Trilogie“ des Guatemalteken Asturias, Sturm. Ein kurzes Büchlein, die deutsche Ausgabe hat nur 170 Seiten, aber ein unglaublich kraftvolles.

Die zugrundeliegende Handlung spielt sich auf den Bananenplantagen ab, die in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in Guatemala entstanden. Dort leben einige US-Amerikaner, Mitarbeiter eines riesigen Fruchtkonzerns, unter den einheimischen Arbeitern. Die Handlung ist nicht stringent, sie springt durch Zeit, Personen und Orte, erzählt einzelne Episoden aus dem Kampf um die Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit der Banenenpflanzer. Asturias präsentiert ein Kaleidoskop der Armut, Anstrengung, Krankheit und Verausgabung, doch zugleich der Hoffnung. Alle hoffen auf ein besseres Leben als im kargen Inland, wenn sie sich an die Küste auf die Plantagen begeben. Alle hoffen auf Geld und Erfolg und werden immer wieder von den ausbeuterischen Großkonzernen betrogen. Doch sie geben nicht auf.

Allgegenwärtig ist die feuchte Hitze, die es kaum möglich macht, zu atmen, die jeden Menschen irgendwann in die Knie zwingt. Doch sie liegt über Geldschein-grünen Bananenstauden, wunderschönen Seen, Erholung am Meer. Die Beschreibungen der Natur sind von einer Ausdrucksstärke, wie man sie kaum jemals findet und darin, viel mehr als in der rudimentären Handlung, liegt die Macht des Romans. Ein poetisches Zeitzeugnis aus einem Land, das hier kaum jemals Erwähnung findet.

Fjodor M. Dostojewskij – Die Brüder Karamasow

Dostojewskij und mich wird wohl immer eine Hassliebe verbinden, denn auch, wenn mir die Bedeutung von Schuld und Sühne für die Literatur berechtigt erscheint, so habe ich es doch gehasst, diesen Roman zu lesen. Dennoch, aus Ehrgeiz oder welchem Grund auch immer, beschloss ich, ihm noch eine Chance zu geben und las den ungleich viel längeren Roman Die Brüder Karamasow – in wesentlich kürzerer Zeit und mit außerordentlichem Vergnügen. Er kann es also doch, kann Romane schreiben, die ich nicht nur zu würdigen, sondern zu genießen in der Lage bin.

Verkauft wird der umfangreiche Bericht über die Brüder Karamasow gern als Kriminalroman, wohl unter anderem, um in unserer heutigen, Krimi-verliebten Zeit noch einen Absatzmarkt dafür aufzutun. Doch der Roman ist so viel mehr, was schon allein darin durchscheint, dass der Mord erst nach knapp 600 Seiten Wirklichkeit ist, auch wenn er zuvor immer angedeutet wird. In meinen Augen waren der großen Themenbereiche drei, die ich kurz umreißen möchte.

1. Die Rolle der Kirche und das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Der Frage nach der Kirchengerichtsbarkeit und dem anzustrebenden Grad an Trennung oder Vereinigung zwischen Kirche und Staat wird gerade zu Beginn sehr viel Raum gegeben. Der Starez Sosima, ein extrem positiv dargesteller Charakter, vertritt die Ansicht, der Staat müsse zur Kirche werden, es müsse vor allem im Hinblick auf Verbrechen soweit kommen, dass die Kirche zu Gericht sitzen kann, Verbrecher aus ihren Reihen auschließen kann und somit der Kriminalität einen viel abschreckenderen Aspekt bieten als bei einer weltlichen Gerichtsbarkeit. Da diese nämlich unnötig grausam sei, fühle sich die Kirche unter ihr gezwungen, mit den Verbrechern Mitleid zu haben und somit werde die Sünde nicht gestraft, sondern vergeben. Erst wenn der Staat zur Kirche würde, könne man tatsächlich sinnvolle Prävention leisten.

Dass diese Meinung von einem der zwei unbestritten positiven Charaktere vorgebracht wird, lässt den Autor dahinter vermuten, auf jeden Fall wird diese Meinung innerhalb des Romans am überzeugendsten vertreten. Im weiteren Verlauf klingt die Fragestellung immer wieder an, denn es handelt sich doch tatsächlich um ein schweres Verbrechen, das begangen wird. Die einleitende Auseinandersetzung mit der Kirchengerichtsbarkeit stellt die Möglichkeit in den Raum, dass der Mord hätte verhindert werden können, worauf auch einige andere Aussagen hindeuten.

2. Das Russentum. Die russische Literatur beschäftigt sich immer wieder ausführlich mit der Frage danach, was den Russen auszeichnet und wodurch der „russische Charakter“ definiert ist. Die Relevanz, die ihre Nationalität für die Russen hat, fand ihren Weg sogar in die Romane von Schriftstellern anderer Nationalitäten, so ist der „Russentisch“ der einzige, an dem sich im Lungensanatorium, das Thomas Mann in seinem Zauberberg beschreibt, Menschen einer Nationalität zusammenschließen, während in allen anderen Begegnungen die Herkunft aller Patienten nicht die geringste Rolle spielt. Dostojewskij ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Seine Dialoge sprechen vom „russischen Volk“, der Verbundenheit mit dem „heimatlichen, russischen Boden“, von den „russischen Gerichten“ und ihrer Vorbildfunktion für die ganze Welt. Dass Russisch-Sein bedeutsam ist, daran besteht kein Zweifel.

Doch betrachtet man die dargestellten Menschen, so bleibt nur ein Schluss übrig: Der Russe ist krank. Er mag ein ehrbarer, aufrichtiger Mensch mit guten Absichten sein, aber in vielerlei Hinsicht wird er geplagt, physisch wie psychisch. Die Frauen sind lahm und neigen zur Hysterie, immer wieder verfallen sie in Gekreisch, erleiden Zusammenbrüche und steigern sich übermäßig in ihre Gefühle hinein. Die Männer erkranken oft am „Nervenfieber“ und verlieren am Ende zahlreich den Verstand, wenn sie nicht vorher an der Schwindsucht sterben. Das Bild, das Dostojewskij vom Zustand seiner Nation zeichnet, ist vernichtend.

3. Der Kriminalroman. Denn natürlich ist Die Brüder Karamasow ein Kriminalroman, nach dem klassischen „whodunit“-Schema wird nach dem Mörder gesucht. Motive werden erörtert, Beweise vorgelegt und vernichtet, Lügen erzählt, Verdächtigungen ausgesprochen, es passiert alles, was der moderne Krimileser sich wünscht. Vollkommen zuverlässig wird die Schuldfrage nicht geklärt, auch wenn nachvollziehbare Argumente für eine Vermutung erbracht werden. Mein Verdacht, den ich sehr früh entwickelte, bestätigte sich nicht, die Irreführung ist äußerst gelungen.

Großartig. Ich bin für den schwierigen ersten Versuch, mich den Werken Dostojewskijs zu nähern, versöhnt. Neben Tolstoi steht er mit diesem Roman noch nicht, aber er rückt deutlich weiter in seine Nähe.

Umberto Eco – Das Foucaultsche Pendel

Mit Umberto Eco starb am 19. Februar diesen Jahres einer der Größten der Literatur und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Lange, bevor er Romane schrieb, war er schon ein anerkannter Sprach- und Literaturwissenschaftler, seine Einführung in die Semiotik gilt bis heute als Standardwerk. Weltbekannt wurde er durch seinen Roman Der Name der Rose, nicht zuletzt wohl aufgrund der Verfilmung mit Sean Connery in der Hauptrolle, die in dem Ruf steht, eines der seltenen Beispiele dafür zu sein, dass ein Film besser ist als das Buch, auf dem er basiert. Auch wenn ich den Film mag – diese Meinung teile ich nicht, denn er reduziert dieses unglaublich vielschichtige, extrem intertextuelle Werk zum größten Teil auf die Lesart als Kriminalroman, was ihm absolut nicht gerecht wird.

Von ebensolcher Vielfalt an Zitaten und Beziehungen zu anderen Werken ist der zweite, ebenfalls weltweit erfolgreiche Roman Ecos Das Foucaultsche Pendel (1988). Die Rahmenhandlung lässt sich noch einigermaßen zusammenfassen; im Zentrum steht der Ich-Erzähler Casaubon, der während seiner Dissertation über die Templer bereits einige seltsame Gestalten trifft, unter anderem einen Herrn Agliè, der sich als der Graf von Saint-Germain ausgibt. Später landet Casaubon in einem kleinen Wissenschaftsverlag, der beginnt, eine Buchreihe über recht esoterische Themen herauszubringen, immer wieder kommen dabei die Templer, aber auch die Rosenkreuzer ins Spiel, nicht zu schweigen von Unmengen immer verrückterer Gestalten, aber auch historischen Personen wie Francis Bacon. Angetrieben von diesen weit verzweigten Verschwörungstheorien, mit denen Casaubon und seine Kollegen täglich bei der Arbeit an diesen Manuskripten konfrontiert werden, beginnen sie, ihre eigene zu entwickeln, eine die ganze Welt umfassende Verschwörung, die ihren Anfang bei den Templern macht, beginnt, Gestalt anzunehmen. Problematisch wird es, als sie selbst nicht mehr vollkommen überzeugt sind, frei zu erfinden, und vor allem eine Gruppe von Menschen auftaucht, die diese Spekulation vollkommen ernst nimmt.

So viel zur Handlung. Sie gibt dem Geschehen einen Rahmen, sie bringt Spannung hinein und ist für sich genommen schon so verrückt, dass es Spaß macht, sie zu lesen. Viel wichtiger aber bei Eco ist sein Erzählverfahren. Er springt in der Zeit, im Zickzack durch die Handlung, mit Rückblenden und Vorausdeutungen, die vollkommen willkürlich aneinandergereiht wirken, aber dennoch eine sinnvolle Einheit bilden. Ständig ist man neugierig, will wissen, was diese seltsamen Vögel antreibt, mit denen man es zu tun bekommt und verliert irgendwann, genau wie die Protagonisten, ein bisschen den Halt in der Realität, beginnt sich zu fragen, wie viel davon möglicherweise stimmen könnte.

Ecos Romane sind Collagen aus Zitaten, sie spielen mit Andeutungen und Hinweisen auf die ganze literarische Welt. Es ist schier unglaublich, wie belesen Eco war, es scheint, als könne man jeden Satz seiner Werke auf andere beziehen, jede seiner Formulierungen kann man irgendwo wiederfinden, wenn man nur lange genug gräbt. Mir wird sich nur ein Bruchteil dieser Anspielungen erschlossen haben und selbst von dem wenigen, das ich zuordnen konnte, war ich überwältigt. Phasenweise hat man das Gefühl, keinen Roman zu lesen, sondern einen Auszug aus der Auflistung eines literarischen Kanons – nur viel fesselnder.

Manche Elemente der dargebrachten Theorien sind so aberwitzig, dass man nur darüber lachen kann, wie beispielsweise die Verkettung von Ghostwritern, die an einer Stelle vermutet wird: Ein gewisser Kelley habe anstelle von Shakespeare dessen Dramen und Sonette verfasst, weil Shakespeare damit beschäftigt war, die Werke zu schreiben, auf denen der Name Francis Bacons stehe würde. Der, eigentlich in der Lage, seine Arbeit selbst zu tun, habe dazu keine Zeit gehabt, denn er habe Rosenkreuzer-Manifeste unter dem Namen Andreae verfasst. Der Herr Andreae aber, dem man diese Werke zuschrieb, war selbst der Ghostwriter Miguel de Cervantes’, schrieb also den berühmten Roman, dessen Titel heute zumeist mit Don Quijote abgekürzt wird. Das relevante Element in dieser Abfolge ist vor allem die eigentliche Arbeit Bacons – der habe nämlich eine andere als die seine, englische Gruppe von Templern aus der Reserve locken wollen. So für sich genommen klingt dies, als habe es sich ein vollkommen irrer Spinner ausgedacht, in der Argumentation des Romans erscheint es logisch. Dieses Gefühl hat man während der Lektüre des Roman wiederholt und am Ende bleiben Verwirrung und die Frage, wie viel von dem, was er da verknüpft hat, Eco selbst geglaubt, wie viel er erfunden und wie viel er sich von anderen Verschwörungstheoretikern abgeguckt hat. Eine Frage, die man wohl nicht beantworten kann, aber den Roman zu lesen kann ich jedem nur ans Herz legen, gerade jetzt, als letzte Ehrung dieses großen Mannes.